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Beitrag vom 05.08.2008
Jeder siebte Mensch – Filmdokument über China von Elke Groen und Ina Ivanceanu
Anna Opel
In diesem puristischen Film kommen chinesische BäuerInnen zu Wort. Unspektakuläre Einzelportraits fügen sich zum Mosaik einer archaischen Gesellschaft die den Aufbruch in die Moderne sucht.
Dieser Film ist kein All-inclusive Paket. Elke Groen und Ina Ivanceanu haben mit bemerkenswerter Zurückhaltung einen sperrigen Film gedreht, der die Zuschauerin mitnimmt in drei chinesische Dörfer, um dort das ganz alltägliche Leben zu porträtieren. Mit Würde und ohne jeden besserwisserischen Kommentar.
Ethnographische Methode
Die Filmemacherinnen setzen radikal auf das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung, wie sie in ethnologischen Studien üblich ist. Ihre GesprächsparterInnen geben Auskunft über ihr tägliches Leben, über ihre Familienumstände und ihre Hoffnungen. Schulkinder erzählen unbedarft von ihren Berufswünschen, die Kamera folgt einem jungen Mann zu einem Altar am Rande einer Straße. Eine traurige Frau walkt Nudeln.
Irgendwo in China
Drei Drehorte geben die dreiteilige Struktur des Films vor. Die sozialen Strukturen und Realitäten dieser Orte werden anhand vieler kleiner Porträts skizziert. Zu Beginn eines jeden Kapitels sind die Hard Facts eingeblendet: Einwohnerzahl, Anzahl der Familien, der Fernsehgeräte, der Traktoren und Autos vor Ort. Außerdem gibt es Kurzinformationen über die soziologischen Besonderheiten des jeweiligen Dorfes. Das Dorf Beisuzha ist zum Beispiel ein Musterdorf kommunistischer Planung. Auf allen öffentlichen Plätzen prangen Parolen und Ermahnungen an den Wänden. Und aus den Gesprächen der Filmemacherinnen mit dem Dorfvorsteher und den BewohnerInnen fügt sich nach und nach das Bild einer Kleinstruktur.
Mosaiksteinchen als Teil des Ganzen
Man sieht einzelne DorfbewohnerInnen beim Zubereiten einer Mahlzeit, eine Familie inmitten eines Haufens frisch geerntetem Mais, der vom trockenen Laub befreit wird. Die Eltern äußern Wünsche, die sie für ihre Kinder haben: beruflich sei alles denkbar, nur keine Feldarbeit. Die Kamera ist mit von der Partie, als eine Mutter, die gerade ihr zweites Kind geboren hat, von der Vorsitzenden des Komitees zur Familienplanung besucht wird. Die Mutter wird ermahnt, nicht so hart zu arbeiten. Mit gesenktem Blick erwidert sie, die Schwiegermutter habe ihr aber angeordnet, die fünf Felder der Familie in Kürze umzugraben. Die Vorsteherin erinnert daran, dass das Feld für die kleine Tochter noch beantragt werden müsse, an die Sterilisation sei außerdem zu denken. Sie wiederholt ihre Mahnungen, dann folgt ihr die Kamera durch die ärmliche Küche hinaus ins Freie.
Unaufgeregte Portraits
Den Filmemacherinnen gelingt es, sensible Momente und verschiedenartige Einblicke in eine Welt zu präsentieren, wie sie uns ferner kaum sein könnte. Von der statistischen Betrachtung des siebten Anteils an der Weltbevölkerung, wie sie im Titel anklingt, gelingt der direkte Schritt hin zu den Individuen, zu ihrer Perspektive, ihren Sorgen und Freuden. Auch visuell frappierend sind die bitterarmen Lebensumstände der Menschen, die in einer teils autoritären, teils archaischen Struktur leben, dabei aber überwiegend optimistisch sind.
Zaghafter Aufbruch einer ländlichen Gesellschaft
Die sozialen Verwüstungen durch die Kulturrevolution werden als Thema gestreift, Umweltverschmutzung, das allmähliche Wiederfinden ursprünglicher Kulturtechniken, Zusammenleben der Generationen: all diese Felder strikt in der Perspektive und den Worten der InterviewpartnerInnen und so ergibt sich das authentische Bild einer ländlichen Gesellschaft. Bescheiden, aber doch unbeirrbar auf eine bessere Zukunft hoffend.
Im Rahmen der Dreharbeiten sind unter Anleitung des Teams auch Filmaufnahmen entstanden, die von den DorfbewohnerInnen selbst gestaltet wurden. Sie wurden vor Ort als Freiluftkino öffentlich gezeigt, gingen aber auch als Material mit in den Film ein. Wo dieses Material anfängt und wo es aufhört, wird beim Anschauen des Films nicht immer ganz klar. Aber das macht nichts.
AVIVA-Tipp: "Jeder siebte Mensch" ist ein Film für Leute, denen karge, aber authentische Einblicke in ferne Realitäten am Herzen liegen. Wer als Kontrastprogramm zur diesjährigen Olympiade das Bedürfnis hat, etwas über die arme Seite Chinas zu erfahren, sollte sich diesen Streifen keinesfalls entgehen lassen.
Zu den Regisseurinnen: Elke Groen studierte Architektur und Photographie in Wien und drehte dokumentarische Kurzfilme, die auf diversen europäischen Festivals gezeigt wurden und Preise erhielten.
Ina Ivanceanu studierte Afrikanistik und Development Studies in Wien und Leiden (NL.) Für das Dokumentarfilmprojekt "Bunica", Österreich/Luxemburg 2005 arbeiteten die beiden Regisseurinnen erstmals zusammen.
(Quelle: Neue Visionen Filmverleih GmbH)
Jeder siebte Mensch
Österreich / Luxemburg 2006, 35 mm
Drehbuch und Regie: Elke Groen und Ina Ivanceanu
Kamera: Elke Groen
Ton: Chang Pang, Carlo Thoss
Schnitt: Pia Dumont
Sounddesign: Dietmar Schipek
Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH
Dauer: 75 Minuten
Kinostart: 31. Juli 2008